Oh du schöne bunte, neue Arbeitswelt – der Traumtraumjob bei einem Globalplayer

Ein Zwischenruf von Jan Schäfer

Der Traum vieler Arbeitnehmer ist es, irgendwann bei einer der großen Marken, den Big Playern, zu arbeiten. Befeuert wird dieser Wunsch durch Berichte und Reportagen über die begehrten Arbeitsplätze. Alles scheint dort möglich zu sein: beste Fortbildungsoptionen, Auslandsaufenthalte, flexible Arbeitszeiten, Fitnesseinrichtungen, private Nutzung der firmeneigenen Autoflotte, Wunschessen in der Kantine, die mehr Lounge ist als Speisesaal und selbstverständlich gehören die aktuellsten Laptops, Tablets sowie Smartphones dazu. Gerade bei Absolventen von Universitäten oder Berufsneulingen stößt die neue, bunte Arbeitswelt in Verbindung mit einem großen Markennamen auf große, ja manchmal blinde Begeisterung.

So war es ebenfalls bei einer Verwandten. Mit 28 absolvierte sie mit Auszeichnung ihr Studium an einer deutschen Universität. Sie war ehrgeizig und fleißig. Außerdem sprach sie fließend vier Fremdsprachen. Es war kaum verwunderlich, dass ein sehr bekannter, international agierender IT-Konzern auf sie aufmerksam wurde. Das Einstellungsverfahren bestand sie mit Bravour. Danach ging alles sehr rasch: die Auflösung der Wohnung, Abschied von Familie und Freunden, Umzug an den europäischen Hauptsitz des Konzerns, Onboarding-Programm (Einweisung von Unternehmensneulingen) und schließlich „Dienstbeginn“ als Deputy Supervisor in einer neugeschaffenen Unit. Sie schien das große Los gezogen zu haben. Wir alle waren sehr stolz auf sie.

Der Konzern mit den kinderspielzeugfarbenen Buchstaben hielt alles, was unserer Bekannten bei der Einstellung versprochen worden war. Jedes Mal, wenn wir uns via Skype unterhielten, beschrieb sie die phantastische Arbeitswelt. Besonders ich hörte aufmerksam zu, da ich beruflich Einblick in Arbeitsprozesse habe bzw. diese mit entwickele. „Lerne von den Besten“, dachte ich mir und freute mich über etliche Insides. Der Arbeitgeber sorgt für gesunde Ernährung am Arbeitsplatz, Ruhezonen, sogar der Mittagsschlaf am Arbeitsplatz ist erlaubt. Mehr oder weniger kann jeder Angestellte seinen Arbeitsverlauf eigenverantwortlich gestalten. Firmenerfolge werden gemeinschaftlich gefeiert. Das WIR zählt. Daneben ist es möglich, Ideen oder Vorschläge zu entwickeln sowie einzubringen und das bei laufender Arbeitszeit!

Wenn unsere Verwandte davon erzählte, leuchten ihre Augen. Ich überlegte mir, wie bestimmte Abläufe der „neuen“ Arbeitswelt mit traditionellen Prozessen zu vereinbaren sind. Nicht jeder Betrieb kann „Spielzimmer“ einrichten, in denen die Mitarbeiter sich zwischendurch entspannen können. Ebenso sind Freizeiteinrichtungen wie Tennisplätze oder Schwimmbäder für sehr viele Unternehmen finanziell undenkbar. Hinter diesen Optionen und Freiräumen steht der Gedanke, die Produktivität zu steigern und auf hohem Niveau zu gewährleisten. Andererseits entsteht durch solche Maßnahmen umgekehrt eine moralische Verpflichtung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber. Die Loyalität soll so gefestigt und die Bereitschaft zu Leistung geweckt werden.

Nach einem Jahr wurden die Anrufe unserer Verwandten weniger. Es geschah schleichend. Uns fiel es erst gar nicht auf. Allmählich mussten wir intensiv nachfragen, wann wir wieder skypen wollten. Die Antwort lautete immer öfter: „Später, ich habe viel zu tun oder ich bin heute zu müde.“ Wenn wir Kontakt hatten, konnten wir ihr die Müdigkeit und Erschöpfung ansehen. Private Themen, Freizeit, Freunde, oder anderes in der Art kamen gar nicht mehr in unseren Gesprächen vor. Alles drehte sich um die Arbeit. Im letzten Sommer erzählte sie uns, wie schwierig es war, 14 Tage Urlaub zu bekommen. Dabei hatte sie noch das komplette Kontingent an Urlaubstagen aus dem Jahr zuvor. Die Antwort des Internetriesen: „Wozu möchten Sie Urlaub haben?. Sie haben doch alles vor Ort, was Sie zur Entspannung brauchen und können sich auch ein paar Tage frei vom Arbeitsplan melden.“ Unsere Verwandte fragte sich, ob ein paar Tage „frei vom Arbeitsplan“ wohl das gleiche sind wie ein echter Urlaub.

Gegen Weihnachten erkrankte ihr Vater schwer. Sein Leben war in akuter Gefahr. Sie bat den Konzern, ihr für einen Heimflug wegen einer dringenden Familienangelegenheit frei zu geben. Die zuständige Abteilung lehnte ihr Ersuchen mit der Begründung ab, ihr Vater sei ja noch am Leben und nicht tot. Das war selbst für die fleißige und loyale junge Frau zu viel. Sie kündigte und verließ zu Ende Jänner die bunte, schöne Arbeitswelt des IT-Riesen. Als sie wieder auf dem europäischen Festland war, schilderte sie, was sie in über zwei Jahren erlebt und erfahren hatte. Subtil nimmt der Konzern Einfluss auf das Leben der Mitarbeiter. Das geht so weit, dass er partnerschaftliche Beziehungen unter Mitarbeitern unterstützt, jedoch mit Partnern außerhalb der Firma „ausbremst“. Jeder hat jederzeit und überall erreichbar zu sein. Durch Anrufe und eine bestimmte Art von Mails kontrolliert das Unternehmen die Erreichbarkeit 24 Stunden lang am Tag. Werden Anrufe ignoriert oder Mails nicht beantwortet, wird zu einer Unterredung vorgeladen. Das Feld der Kontrolle ist weit und oft unterschwellig. Unsere Verwandte erinnerte sich, dass in den 26 Monaten ihrer Tätigkeit allein in ihrer Unit 72 Mal die Kolleginnen und Kollegen gewechselt haben. Kontinuität, Stabilität und Loyalität innerhalb einer Firma sehen anders aus.

Die ständige Erreichbarkeit, zusammen mit der Gewissheit, ständig kontrolliert zu werden, hat unsere Verwandte krank gemacht. Sie leidet unter Schlaf- und Essstörungen. Es fällt ihr schwer, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Sie bekommt Panikattacken bei Stille und ist übernervös. Ein soziales Umfeld außerhalb der Familie gibt es nicht mehr. Seit Anfang Feber befindet sie sich in psychologischer Behandlung. Unter anderem wird sie von Laptop, Tablet und Smartphone entwöhnt. Die bunte Arbeitswelt mit den kinderspielzeugfarbigen Lettern hat in unseren Augen tiefe Risse bekommen und wirft Fragen auf. Für mich persönlich grenzen die Ansprüche des Unternehmens schon an sektenartiges Verhalten. Sicherlich muss über neue Wege am Arbeitsplatz nachgedacht werden. Traditionelle Muster sind vielfach ebenso wenig zukunftstauglich wie Arbeitsplätze, die nur durch Algorithmen gesteuert werden.

Aber: Der Mensch steht bei allem am Anfang und an dessen Ende. Erkrankt der Mensch, so hat das Folgen auf das gesamte System – ob traditionell oder IT-fortschrittlich. Ausbeutung, Druck und totale Überwachung haben noch nie langfristig Zukunft gesichert. Ein Blick in die Geschichte hilft.

Die Frage ist: Wie wollen wir zukünftig arbeiten und leben? Innovation bezieht sich neben reinen Produkten auch auf Prozesse und Lebensformen. Zukunft ist das, was wir heute planen und morgen leben. Es liegt an uns.

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